Lernen zu lernen
Die Statistiken der Ergebnisse des Ersten und Zweiten Juristischen Staatsexamens können das Fürchten lehren - fast ein Drittel der Kandidaten scheitert. Dabei mangelt es vielen Studierenden nicht an Intelligenz, sondern sie haben Lernschwierigkeiten. Es gilt, die Defizite zu erkennen und zu bewältigen. Die Autorin berichtet aus ihrer täglichen Praxis als hauptberufliche Repetitorin über die Lernprobleme, denen sie häufig begegnet, und wie sie bewältigt werden können.
Viel Aufwand für dürftige Ergebnisse
Grund für die die schlechten Ergebnisse im Ersten und Zweiten Juristischen Staatsexamen ist nicht mangelnder Fleiß. Im Gegenteil. Unter Jurastudenten und Rechtsreferendaren ist ein wilder Aktionismus zu beobachten. Es werden zahllose Kurse belegt und Probeklausuren geschrieben. An Wochenenden bevölkern Heerscharen die Bibliotheken. Der Aufwand, der für die juristischen Examina betrieben wird, ist enorm. Leider steht er zu den Ergebnissen in einem krassen Missverhältnis. In keinem anderen Studiengang steigern sich die Studierenden so in das Examen hinein, lernen intensiv über Monate und Jahre und schneiden trotzdem so schlecht ab. Viele verlieren sich während der Examensvorbereitung im detailbesessenen Lernen. Sie können nicht zwischen wichtigem und unwichtigem Lernstoff unterscheiden und konsumieren wahllos alles, was ihnen an der Universität und vom Repetitor mitgegeben wird. Die Folge ist, dass sich die Unterlagen auf dem Schreibtisch und in den Regalen stapeln. Dieses verzweifelte Hamstern von Lernmaterialien führt dazu, dass man nicht mehr weiß, wo und wie man mit dem Lernen anfangen soll.
Gewissensberuhigung statt Systematik
Zur Beruhigung des Gewissens besuchen viele Studenten und Referendare Vorbereitungskurse. Zusammen mit hunderten anderen jungen Menschen wird Zeit abgesessen. Der Tischnachbar, vorbeilaufende Passanten, das Handy oder die Nagelmaniküre - alles ist wichtiger als die aktive Teilnahme am Kurs. Nur wenige hören aufmerksam zu und beteiligen sich. Viele sind erst wieder geistesgegenwärtig, wenn es darum geht, Unterlagen in Empfang zu nehmen — um sie eifrig abzuheften. Ebenso verbreitet ist das Phänomen, dass Kursteilnehmer lustlos und geistig abwesend über den Skripten hängen und diese bunt bemalen. Viele buchen Kurse mit denselben Fällen mehrmals oder kaufen sich Skripte jedes Jahr wieder in der neuen Auflage.
Diagnose: Selbstbetrug
Häufig zählen Examenskandidaten stolz auf, wieviel Klausuren sie schon geschrieben haben. Keiner fragt sich, unter welchen Bedingungen die Lösungen verfasst wurden. Meist werden die Klausuren nicht in den vorgegebenen fünf Stunden, sondern über Stunden und Tage verteilt bearbeitet. Nicht wenige benutzen Karteikarten, Lehrbücher und Skripte als Hilfsmittel. Manch einer sucht den Rat seiner Kommilitonen und unterhält sich bei einer Zigarette über die Probleme der Klausur. Für viele stellt die Teilnahme am Klausurenkurs eine reine Gewissensberuhigung dar. Man wähnt sich aktiv und fleißig. Viele der Teilnehmer, die die Klausur nicht (wirklich) mitgeschrieben haben, gehen in die Klausurbesprechung in der Hoffnung, irgendetwas „mitzunehmen“. Man lässt sich berieseln vom Vortrag des Dozenten, nimmt die Musterlösung mit und heftet sie ab. Frustriert gehen diejenigen nach Hause, die keine ausformulierte Musterlösung bekommen haben. Erschreckend viele Studierende verschieben ihr Examen von Termin zu Termin. Einige Studenten müssen als Folge davon nebenher mehr arbeiten, um ihren Lebensunterhalt zu finanzieren. Wiederum andere arbeiten, um sich einen aufwändigen Lebensstil leisten zu können. Sie sehen sich gezwungen, ihre Eltern um die weitere Finanzierung des Studiums zu bitten. Alle diese Aspekte zeigen, dass viele Jurastudenten und Rechtsreferendare das juristische Lernen und Arbeiten nicht gelernt haben. Die für die juristische Ausbildung verantwortlichen Personen (Dozenten und Repetitoren) wiederum müssen sich fragen, ob sie für die Aspekte des Lernens genügend tun. Manche von ihnen profitieren davon, dass große Lernunsicherheiten bestehen, weil noch mehr Kurse gebucht und Bücher und Skripte gekauft werden. Mit dem wahllosen Konsum von Kursen und Materialien lässt sich Lernschwierigkeiten jedoch nicht begegnen. Lernprobleme lassen sich beheben. Sehr wichtig ist, dass jeder die richtige individuelle Lernmethode findet. Das geschieht am besten in einem Beratungsgespräch. Die Selbsteinschätzung entspricht häufig nicht der Fremdeinschätzung. Daher ist es wichtig, dass der Leistungsstand, so objektiv und so früh wie möglich — nicht erst im Examen! — von einem Außenstehenden getestet wird. Vor allen pauschalen Ratschlägen kann nur gewarnt werden.
Erster Schritt: Wissensfundament
Zunächst ist es wichtig, ein solides Wissensfundament zu schaffen. Die Erfahrung lehrt, dass das ausschließliche Lernen an Fällen nicht hilfreich, sondern gefährlich ist. Ohne Grundlagenwissen lassen sich unbekannte Fälle nicht lösen. Rein fallorientiertes Lernen verführt dazu, in der Klausur den vermeintlich bekannten Fall zu sehen. Ein gutes Wissensfundament erarbeitet man sich am besten, indem man ein Lehrbuch gründlich und vollständig durcharbeitet. Oft glauben Jurastudenten den Lehren einiger Repetitoren, dass Lehrbücher für Examenskandidaten nicht geeignet seien. Dies ist ein Irrtum. Beispielsweise sind die Werke von Kingreen/Poscher sowie Brox/Walker Klassiker und hervorragende Lehrbücher, die von erfahrenen Professoren für Studierende (und nicht für Professoren) geschrieben wurden. Die meisten Studierenden haben die Standardlehrbücher in ihren Regalen stehen. Sie sollten sie auch lesen! Einige Verfasser einschlägiger Skripte benutzen Standardlehrbücher gerne als Vorlage für ihre Skripte und sehen darin keinen Widerspruch zu ihrer Kritik an diesen Büchern. Dann aber sollte man besser gleich mit dem Original lernen! Hier nur ein Beispiel: In fast allen Skripten zu den Grundrechten kann man lesen, dass die Kirchen als Körperschaften des öffentlichen Rechts hinsichtlich Art. 4 GG (Glaubensfreiheit) grundrechtsfähig seien. Kingreen/Poscher schreiben hingegen richtig, dass die Kirchen (anders als die Rundfunkanstalten und Universitäten) auf Grund ihrer besonderen Stellung hinsichtlich aller Grundrechte grundrechtsfähig sind. Das Beispiel zeigt, dass Lehrbücher sorgfältiger erstellt werden als Skripte.
Zweiter Schritt: Wiederholung
Der Stoff aus den Lehrbüchern sollte in einem zweiten Schritt wiederholt werden. Zur Wiederholung eignen sich besonders gut Karteikarten. Karteikarten kann man selbst erstellen oder mit von Profis erstellten Karteikarten lernen. Es zeigt sich immer wieder, dass die Lernenden zwischen wichtigen und weniger wichtigen Informationen nicht unterscheiden können. Selbst erstellte Karteikarten werden dadurch oft unübersichtlich und sind anfällig für Fehler und Ungenauigkeiten. In meinen Kursen sowie im Einzelunterricht verschicke ich Karteikarten und teile generell immer umfangreiches Wiederholungsmaterial aus.
Dritter Schritt: Klausurentraining
In einem dritten Schritt wird das erlernte Wissen umgesetzt durch das Lesen von Fällen sowie das Schreiben von Klausuren. Die Klausurtechnik (Aufbau, Problemgewichtung und Argumentation) lässt sich durch aktives Lernen am Fall einüben. Hierbei ist es wertvoll, mit originalen Examensklausuren aus dem jeweiligen Bundesland zu arbeiten. Man sollte mit dem Gliedern von Fällen beginnen: Man nimmt sich die Fallangabe der Examensklausur, liest sie gründlich und fertigt eine Gliederung. Dann vergleicht man seine Gliederung mit der Musterlösung und notiert die eigenen Fehler sowie die übersehenen Probleme. Im darauffolgenden Schritt schreibt man dann selbstständig und ohne Hilfsmittel in der angegebenen Bearbeitungszeit Klausuren. Wer sich ein Rechtsgebiet zunächst gründlich erarbeitet, wird in den Klausuren besser abschneiden und dadurch ein Erfolgserlebnis haben. Im Gegensatz dazu ist es demotivierend, an einem Klausurenkurs teilzunehmen und von Woche zu Woche zu sehen, dass man die Klausuren nicht in den Griff bekommt. Was hier hilft, ist lernen! Lernen kann sehr viel Spaß machen. Lernen kann aber auch mühsam sein! Man sollte sich durch ein weniger erfreuliches Ergebnis nicht frustrieren lassen und wegen eines Ausreißers nicht sofort die Lernmethode in Frage stellen. Ausdauer, Beharrlichkeit, Fleiß und Disziplin sind in der Jurisprudenz wichtige Voraussetzungen. Durchhalten und dranbleiben, ist die Devise! Für die mündliche Prüfung schließlich ist es sehr hilfreich, an einer simulierten Prüfung teilzunehmen. Um Ängste abzubauen und eine Vorstellung vom Ablauf eines Prüfungsgesprächs zu bekommen, kann man auch eine echte Prüfung besuchen. Das Lernen auf Klausuren führt oft dazu, dass auf Fragen im Gespräch nicht angemessen geantwortet werden kann. Außerdem sollten viele Jurastudenten und Referendare unbedingt an ihrem Auftreten und ihren rhetorischen Fähigkeiten arbeiten. Reden lernt man am besten durch Übung! Seit 20 Jahren helfe ich daher Jurastudenten, Rechtsreferendaren und Eignungsprüfungskandidaten die richtige Lernmethode zu finden.