Anhand der Anspruchsprüfung im BGB kann man wichtige Punkte im sog. Gutachtenstil Jura erlernen.
Der Gutachtenstil Jura
I. Anspruchsprüfung und Gutachtenstil Jura
Die meisten Klausuren im BGB zielen auf eine Prüfung von Ansprüchen. Den sog. Gutachtenstil Jura kann man gut anhand der Anspruchsprüfung im BGB erklären.
Ein Anspruch, § 194 I BGB (Legaldefinition), ist das Recht, von einem anderen ein Tun oder Unterlassen zu verlangen. Die Prüfung jedes Anspruchs basiert auf der Frage:
WER kann WAS von WEM WORAUS verlangen?
1. Anspruchsteller und Anspruchsgegner
Wichtige Regel für den sog. Gutachtenstil Jura:
Sind laut Sachverhalt die Ansprüche jeder im Sachverhalt vorkommenden Person gegen alle anderen dort vorkommenden Personen zu prüfen, gliedert man zunächst nach Zweipersonenverhältnissen (Wer von wem?).
2. Anspruchsziel
Ist die Gliederung in Zweipersonenverhältnisse erfolgt oder muß nur ein Anspruch einer Person gegen eine andere geprüft werden, so ist nun zu klären, was verlangt wird. Dabei kann es sich um z.B. Kaufpreiszahlung oder die Übereignung einer Sache handeln; möglicherweise wird aber auch Schadensersatz oder die Herausgabe einer bestimmten Sache begehrt.
3. Anspruchsgrundlagen, Gutachtenstil Jura
Ist man sich darüber klar, was verlangt wird, so ist nun zu prüfen, woraus es verlangt werden kann. Jetzt erst richtet sich der Blick ins Gesetz, um Anspruchsgrundlagen aufzufinden, die das Begehren des Antragstellers schützen könnten. Für einen einzelnen Anspruch gibt es möglicherweise mehrere Anspruchsgrundlagen, es sind daher stets alle in Betracht kommenden Anspruchsgrundlagen zu prüfen.
Stellt man dann fest, dass eine angeprüfte Anspruchsgrundlage doch nicht einschlägig ist, so müssen diese Überlegungen dennoch ins Gutachten aufgenommen werden.
II. Prüfungsreihenfolge bei mehreren Anspruchsgrundlagen, Gutachtenstil Jura
1. Ansprüche aus Vertrag
a) Primäransprüche
aa) Vertragserfüllung
Wichtige Regel für den Gutachtenstil Jura:
(Prüfungsreihenfolge siehe der vertragliche Primäranspruch:
entstanden? – erloschen? – durchsetzbar?)
§ 433 I BGB, Anspruch auf Übergabe und Übereignung der Kaufsache
§ 433 II BGB Zahlung des vereinbarten Kaufpreises und Abnahme der Kaufsache
bb) Nacherfüllung (In Form von Nachlieferung, Neuherstellung, oder Mangelbeseitigung)
Kauf: §§ 437 Nr.1, 439
WerkV: §§ 634 Nr. 1, 635
Schenkung: §§ 524 II S. 1
Werklieferung: §§ 651 S. 1, 437 Nr. 1, 439
Miete: § 535 I S. 2
Pacht: §§ 581 II i.V.m. 535 I S. 2
Leihe: § 598
Sachdarlehen: §§ 607 i.V.m. 437 Nr. 1, 439 analog
Geschäftsbesorgung mit werkvertragsähnlichem Charakter: § 675 i.V.m. 634 Nr. 1, 635
Reisevertrag: § 651 c) II
VZD: Anspruchsgrundlage des jeweiligen Vertrages i.V.m. § 328
Unmittelbar aus: 311 I
Übergegangene Ansprüche
b) Sekundäransprüche
Rückzahlung / Rückgabe (§§ 546, 604, 667 ff., 346 ff.)
Minderung
Schadensersatz (§§ 311 a) II; 280 ff; 280 ff. i.V.m. GewährleistungsR; p.V.V. - §§ 280 I, 241 II BGB)
Aufwendungsersatz (§§ 304, 670 ff.)
Herausgabe eines Surrogats
VSD i.V.m. §§ 280 I, 241 II BGB, der Vertrag mit Schutzwirkung für Dritte (VSD) ist ein vertraglicher Anspruch, wenn er in Verbindung steht mit einem Anspruch aus positiver Vertragsverletzung (§§ 280 I, 241 II BGB)
2. Vertragsähnliche Ansprüche
(§§ 179, 122, 313, c.i.c., GOA )
Solche Ansprüche sind nach den vertraglichen Ansprüchen zu prüfen, da sie diesen nahekommen. Die Ansprüche aus vertragsähnlichen Verhältnissen umfassen z.B.:
a) Ansprüche auf Erfüllung bzw. auf Ersatz des Vertrauensschadens
§ 179 I BGB, Anspruch gegen Vertreter ohne Vertretungsmacht (Erfüllung oder Ersatz des positiven Interesses) und
§ 179 II BGB (Ersatz des negativen Interesses)
b) Ansprüche auf Schadensersatz
§ 122 BGB, Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens bei Anfechtung einer Willenserklärung. Hier besteht eine Begrenzung des negativen Interesses der Höhe nach auf das positive Interesse, vgl. Wortlaut des § 122 BGB. Arg.: Weil ex-tunc Nichtigkeit des § 142 I BGB der Vertrag (-).
c.i.c. - §§ 280 I, 241 II, 311 II BGB, Anspruch auf Ersatz des Vertrauensschadens aus Verschulden bei Vertragsverhandlungen = culpa in contrahendo. Hier besteht keine Begrenzung auf das positive Interesse. (c.i.c. = Vertrag noch nicht geschlossen + Nebenpflicht verletzt). § 122 BGB und c.i.c. sind nebeneinander anwendbar.
VSD i.V.m. c.i.c., ist ein vertragsähnlicher Anspruch. Im Gemüseblatt-Fall lag eine culpa in contrahendo (c.i.c.) vor, da das Kind vor Abschluss des Kaufvertrages auf dem Gemüseblatt ausgerutscht ist. Daher Lösung im Gemüseblatt-Fall: c.i.c. (§§ 280 I, 241 II, 311 II BGB) i.V.m. den Grundsätzen des Vertrages mit Schutzwirkung zugunsten Dritter.
c) § 313 – Vertragsanpassung bei Störung der Geschäftsgrundlage
d) Ansprüche aus GOA
Aufwendungsersatz, Verwendungsersatz, Nutzungsersatz
Schadensersatz
Herausgabeanspruch
§ 670 analog bei risikotypischen Begleitschäden (z.B. im ArbeitsR )
3. Dingliche Ansprüche
Dingliche Ansprüche sollen dingliche Rechte vor Beeinträchtigung schützen.
Herausgabeansprüche (§§ 861, 985, 1007 I, II ff.)
EBV (§§ 987 ff. BGB) Bei den Ansprüchen aus §§ 987 ff. BGB handelt es sich zwar genau genommen nicht um dingliche Ansprüche (weil sie selbstständig abtretbar sind). Dennoch sind sie wegen § 993 I a.E. BGB unbedingt vor deliktischen und bereicherungsrechtlichen Ansprüchen zu prüfen!! § 993 I a.E. BGB statuiert eine abschließende Sonderregelung (Sperrwirkung) des Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses (EBV)
Grundbuchberichtigung
Duldung der Zwangsvollstreckung
Unterlassen / Beseitigung von Beeinträchtigungen
Schadensersatz (§§ 989, 990; 990 II; 991 II, 989, 992, 823 ff.)
Nutzungsersatz (§§ 987, 990; 991 I, 990, 987; 988, 812 ff., 818 I; 993, 812 ff., 818 I; 992, 823 ff.)
Verwendungsersatz (§§ 994 I; 996; 994 II, 683; 994 II, 684, 812 ff.; 999)
4. Deliktische Ansprüche
Die Ansprüche aus unerlaubter Handlung und Gefährdungshaftung gehen auf Schadensersatz. Damit sollen Einbußen ausgeglichen werden, die jemand an Rechtsgütern erlitten hat.
§§ 989 ff. BGB - Eigentümer-Besitzer-Verhältnisses muss vor deliktischen Ansprüchen geprüft werden. Wenn die Spezialregelungen des EBV vorliegen, gehen diese den allgemeinen Regeln vor, weil sie den redlichen Besitzer vor Rechtshängigkeit besser stellen.
EBV hat eine Sperrwirkung gegenüber dem Deliktsrecht. Arg.: § 993 I HS 2 BGB.
Erst wenn feststeht, dass die Spezialregeln der §§ 989 ff. BGB nicht anzuwenden sind, kommen folgende Ansprüche in Betracht:
a) Entschädigungsanspruch (verschuldensunabhängig) - § 906 II 2 BGB
Trenne Entschädigungsansprüche von Schadensersatzansprüchen!
Entschädigungsansprüche sind zum einen verschuldensunabhängig und zum anderen geht die Entschädigung im Zweifel immer auf ein Weniger als Schadensersatz. Keine Naturalrestitution.
§ 906 II 2 BGB ist eine sehr wichtige Anspruchsgrundlage im Nachbarrecht, sog. nachbarrechtlicher Ausgleichsanspruch.
§ 906 II 2 BGB direkt
§ 906 II 2 BGB tritt an die Stelle Abwehranspruchs aus § 1004 BGB, d.h. die wesentliche Beeinträchtigung kann zwar nicht verboten werden (wenn sie ortsüblich ist) wegen § 906 II 1 BGB, aber man erhält dafür eine Entschädigung.
§ 906 II 2 BGB analog
Auf den Besitzer wird der § 906 II 2 BGB analog angewandt
beim sog. faktischen Duldungszwang
b) Gefährdungshaftung ( verschuldensunabhängig )
(Gesetzeswortlaut: „… verpflichtet … Schaden zu ersetzten“)
§ 7 I StVG (sog. Halterhaftung bei Kfz)
§ 1 I HPflG
§ 833 S. 1 BGB (sog. Tierhalterhaftung bei Luxustieren, d.h. Haustieren)
§ 3 HPflG (Haftung des Unternehmers für seine Repräsentanten ohne Exkulpationsmöglichkeit)
§ 1 ProdHaftG (Gefährdungshaftung für fehlerhafte Produkte)
c) Verschuldenshaftung
(1) Verschulden – vermutet (Gesetzeswortlaut: „… tritt nicht ein…“)
§ 18 StVG (vermutetes Eigenverschulden bei der Haftung des Fahrers eines Kfz)
§ 831 BGB (vermutetes Eigenverschulden des Geschäftsherrn)
§ 832 BGB (vermutetes Verschulden der Eltern bei Aufsicht über ihre Kinder)
§ 833 S. 2 BGB (vermutetes Eigenverschulden bei der Haftung für Nutztiere)
§ 834 BGB
§ 836 BGB (vermutetes Verschulden des Grundstücksbesitzers)
(2 ) Verschulden – tatsächlich (Gesetzeswortlaut: „… Vorsatz, Fahrlässigkeit…“)
(Gläubiger muss dem Schuldner das Verschulden beweisen)
§ 823 I BGB (Haftung für nachzuweisendes Verschulden)
§ 823 II BGB (Haftung für nachzuweisendes Verschulden)
§ 824 BGB
§ 826 BGB (Haftung für nachzuweisendes Verschulden)
Ausnahme: Hühnerpestentscheidung - Produzentenhaftung Beweislastumkehr
5. Ansprüche aus ungerechtfertigter Bereicherung
Bereicherungsansprüche bezwecken den Ausgleich einer nicht gerechtfertigten Vermögensverschiebung, indem die Vermögensvermehrung beim „Bereicherten“ zugunsten des „Entreicherten“ wieder beseitigt wird.
a) Leistungskondiktion (Prüfe Leistungskondiktion vor der Nichtleistungskondiktion!)
§ 812 I 1 Alt. 1 BGB (Vermögensvorteil durch Leistung ohne rechtlichen Grund, sog. condictio indebiti)
§ 812 I 2 Alt. 1 BGB (Vermögensvorteil durch Leistung für die der rechtliche Grund später wegfällt)
§ 812 I 2 Alt. 2 BGB (Vermögensvorteil durch Leistung und verfehltem Leistungszweck, sog. condictio ob rem)
§ 813 I BGB
§ 817 S. 1 BGB
b) Nichtleistungskondiktion
( 1 ) Eingriffskondiktion – § 816 BGB
§ 816 enthält drei Sondertatbestände der Eingriffskondiktion (§§ 816 I S. 1 ; 816 I S. 2 ; 816 II ), die wegen ihrer Spezialität vor dem Anspruch des § 812 I 1 Alt. 2 BGB zu prüfen sind.
Erst wenn keiner der drei Sondertatbestände vorliegt, wird die Eingriffskondiktion gemäß dem § 812 I 1 Alt. 2 BGB geprüft.
( 2 ) § 812 I 1 Alt. 2 BGB
Rückgriffskondiktion bei der Bezahlung fremder Schulden
Verwendungskondiktion bei der Vornahme von Verwendungen an einer Sache
Allgemeine Eingriffskondiktion in sonstigen Fällen
( 3 ) § 822 BGB
Dritter bei Unentgeltlichkeit
III. Prüfung des einzelnen Anspruchs
Die Prüfung des einzelnen Anspruchs erfolgt jeweils in drei Schritten. Zuerst wird untersucht, ob der Anspruch entstanden ist.
Ist der Anspruch entstanden, so ist im zweiten Schritt zu prüfen, ob der Anspruch noch fortbesteht oder inzwischen untergegangen ist.
Sofern das Fortbestehen des Anspruchs bejaht wird, ist im dritten Schritt zu prüfen, ob der Anspruch durchsetzbar ist, oder ob ihm eine Einrede entgegensteht.
1. Anspruch entstanden
An dieser Stelle ist auch zu prüfen, ob dem Anspruch rechtshindernde Einwendungen (etwa Nichtigkeit eines Vertrages wegen fehlender Geschäftsfähigkeit eines Vertragspartners) entgegenstehen.
2. Anspruch erloschen
Eine rechtsvernichtende Einwendung bewirkt die Vernichtung eines einmal wirksam entstandenen Anspruchs (der Anspruch erlischt, etwa durch Erfüllung, § 362 BGB).
3. Anspruch durchsetzbar
Eine rechtshemmende Einwendung (= Einrede im privatrechtlichen Sinn) ist die Berufung auf ein Gegenrecht. Dieses Leistungsverweigerungsrecht läßt den Anspruch weiterhin bestehen, hemmt aber seine Durchsetzung (z.B.: Einrede der Verjährung, § 214 BGB; des Zurückbehaltungsrechts § 273 BGB; §§ 275 II, III; 321 BGB).